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Kontakte im Krieg. Kyjiv

Sie ist die erste, die ich anrufe, die Verbindung ist erstklassig und im Hintergrund höre ich keine einzige Sirene. Gespenstische Stille. Meine russische Geigenlehrerin wohnt nicht weit vom Kyjiver Fernsehturm, den wir am Dienstagabend in den Nachrichten in Flammen sahen. Ich verdanke ihr so viel und mache mir echt Sorgen um sie. Zugleich schäme ich mich unendlich dafür, dass ich sie seit Jahren nicht kontaktiert habe, obwohl sie mir vor Augen steht, sooft ich die Geige oder die Bratsche in die Hand nehme. Und dass ich so viele Tage in diesem verdammten Krieg gebraucht habe, um überhaupt etwas Mut zu fassen, nicht nur zu schreiben, sondern auch zu telefonieren.

„Du weißt doch“ erzählt sie heiter, „mein Haus steht in einer Siedlung mit lauter kleinen Privathäuschen.“ Ich habe die Hütten, die ich dort gesehen habe, im Hinterkopf. „Und er brüstet sich ja damit, dass seine Leute angeblich nicht auf Zivilisten schießen. Im Moment ist hier alles ruhig. Aber dass er Babyn Jar beschießen lassen musste, dafür fehlen einem einfach die Worte.“ Sie erzählt davon, dass ihre russische Freundin, der sie bis 2013 immer wieder die Gelegenheit verschafft hat, sich in Kyjiv etwas dazu zu verdienen, immer noch nicht hören will, was in der Ukraine wirklich geschieht. Und aus ihrer Stimme klingt Trauer. „Russland wird jetzt Stück für Stück auseinanderfallen - und wir können nur hoffen, dass dieser Krieg sich nicht länger als ein paar Wochen hinzieht. Und dass dieser Irre nicht auf seinen Knopf drückt.“ sagt sie. Wir plaudern fast eine halbe Stunde miteinander, so vertraut, als habe ich mich erst gestern von ihr verabschiedet. Voller Begeisterung erzählt sie mir von ihrer hochbegabten ausländischen Schülerin, die in weniger als drei Jahren bis zum Konzert von Accolay fortgeschritten ist. Neulich wurde diese vorsorglich in die Heimat zurückgeschickt und meine Geigenlehrerin hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, das Musikschulprogramm, das in der Ukraine ja streng vorgeschrieben ist, mit ihr zuende führen zu dürfen.

So innig unser Gespräch auch ist, es hinterlässt in mir ein gespenstisches Gefühl.


Ein Freund, ebenfalls ein begnadeter Musiker, den ich nicht nur für seine himmlische Musik, sondern auch für seine von Grund auf christlich-pazifistische Einstellung schätze, und mit dem ich Kontakt zu halten versuche, erzählt mir vor einigen Tagen: „Ich hab den ganzen Tag Barrikaden gebaut.“ und schickt mir ein Foto mit, auf dem er mich aus seinem blassen, schmalen Gesicht vor einer Barrikade aus Reifen anlächelt. Ich denke daran, wie dünn und zerbrechlich er schon immer war. Am nächsten Tag hat er schon eine Erkältung, arbeitet aber unermüdlich in der Gruppe mit, die in seinem Stadtbezirk das Gebiet sichert. Rückenschmerzen nach dem anstrengenden Tag erwähnt er nur nebenbei, anfangs waren seine Mutter und er nachts nicht im Luftschutzkeller, dann wurde es doch nötig, mit Schlaf sieht es schlecht aus. „Ich wünschte mir, ich könnte alle, die fliehen, zum Bleiben überreden.“ schreibt er mir. „Auch Menschen wie ich, die den Dienst an der Waffe kategorisch ablehnen, können helfen. Heute habe ich den ganzen Tag mit Bäume gefällt, um die Heizung im nahegelegenen Krankenhaus mit aufrecht zu erhalten.“


Während bei der Tagesschau Kyrylo Tkachenko nüchtern von der Geburt seines kleinen Kindes in diesen Tagen berichtet, er selbst sieht sehr mitgenommen aus und äußert sich bedeckt über das Wohlbefinden seiner Frau, ploppt bei Ralf auf FB die Nachricht einer jungen Frau auf, die er vor einigen Jahren in St. Katharina getraut hat: „Liebe Freunde, uns ist gestern nicht weit von Kyjiv unsere Tochter Eva geboren. Ihr Name bedeutet ˋLeben ´, möge unser Leben weitergehen, trotz aller gegenwärtigen Schwierigkeiten.“ Auf den Fotos sieht sie entsetzlich bleich und ausgezehrt aus und ich denke unweigerlich daran, wie es mir nach den Geburten unserer drei Kinder körperlich und seelisch ging. Oh Gott, stöhne ich innerlich, und kann Ihn nur um Schutz für diese jungen Familien anflehen.


Eine meiner damaligen Kindergottesdienstmütter schrieb vor ein paar Tagen von der Not ihres siebenjährigen Töchterchens, bei dem unter der ganzen nervlichen Anspannung ein neuer Schub seiner Neurodermitis ausgebrochen ist. “Eigentlich müsste ich sie dringend zur Therapie bringen, aber wie, wenn ständig die Sirenen heulen?” Freunde haben alles in Bewegung gesetzt, jemand vom wegen der Lage erstmal geschlossenen Therapiezentrum hat sich auf den Weg gemacht, um das Kind zu behandeln und andere Freunde haben den beiden dann Geleitschutz gegeben. Überschwänglich dankt sie auf FB für die Therapie mit der UV- Lampe und die Beschaffung lindernder Medikamente. Einige fragen, ob sie nicht doch besser mit ihren beiden Kindern evakuiert werden möchte. “Stunden über Stunden auf einer ungewissen Reise zu sein, überfüllte Züge,  beschossen und ausgeplündert zu werden - das kann nicht unsere Variante sein. Ganz abgesehen von der Frage, ob Putin sich nicht doch noch an den Ländern der EU vergreifen will.”


Eine liebe Freundin, die ich über Jahre voller Energie und unglaublich optimistischer Ausstrahlung kenne, nennt mir für unsere Fürbitte am Telefon unter Schluchzen die Namen von Freunden, die zum Teil im Osten die Heimat verteidigen oder aber in Kyjiv mit der Gebietssicherung beschäftigt sind. Der eine im Osten hat flehentlich um Feldapotheken gebeten. Bis neulich hatte sie selbst an der Beschaffung solcher mitgewirkt, nun sitzt sie „am rechten Ufer“ im Keller. Alle halbe Stunde ertönen die Sirenen. „Man kann nicht mal hoch ins Erdgeschoss auf die Toilette gehen.“ Ununterbrochen verfolgt sie die Meldungen im Internet und ist schockiert darüber, dass Russland die Leichen ihrer Gefallenen nicht abholen will: „Sie brauchen diese Körper nicht.“


Eine weitere Freundin schrieb vorgestern einen Appell an die Menschen in Russland, worin sie in freundlichem und nachdenklichen Ton von den Geschehnissen berichtete. Gestern las ich bei ihr Ihre Enttäuschung darüber, dass in den sozialen Netzwerken russischer Bürger der Krieg nur insofern vorkommt, dass sie sich beklagen, nun nicht mehr an Sonnenstrände reisen zu können. „Ihre infantile Deutung bezüglich der Frage zu Putins Russland verwundert einen schon sehr: Deren Lösung wälzen sie auf uns ab. Sich selber halten sie für Opfer seines Regimes und sind noch auf lange Sicht bereit, es zu erleiden.“


Eine liebe Freundin schickt mir ein Gedicht in russischer Sprache mit der Überschrift „Gedicht eines russischen Soldaten“, worin ein gegen die Ukraine in den Krieg gezogener Mann davon berichtet, wie ein ukrainischer Arzt aus Überzeugung ihm seine Kriegsverletzung behandelt und damit das Leben gerettet hat, „weil es sich so gehört“. Ob es wirklich von einem Russen verfasst wurde, oder doch eher von einem Ukrainer, der sich sehnlichst wünscht, dass einfach Menschlichkeit und Nächstenliebe die Oberhand gewinnen und auch das einstige Brudervolk, das sie jetzt so hart bedrängt, zur Einsicht kommt, dass die Ukrainer einfach nur in Freiheit und Eigenverantwortung leben wollen und den Russen nichts Böses wollen, das sei dahingestellt. Doch für mich wirft es ein Licht darauf, dass die Ukrainer immer noch gewillt sind, die einzelnen, leider verblendeten Menschen zu sehen, die ihnen da gegenüberstehen und für die es noch eine Möglichkeit gibt, ihren Irrtum einzusehen und von ihm Abstand zu nehmen .