· 

Warten auf den Fahrstuhl

Vorsichtshalber habe ich den Namen meiner Freundin im folgenden Text geändert.

Morgen haben wir den ganzen Tag Ausgangssperre,“ schreibt sie mir vor einigen Tagen aus Kyjiv.  Da wusste ich noch nicht, dass die drei osteuropäischen Staatsoberhäupter auf ihrem riskanten Weg nach Kyjiv waren. Heute ging ich ganz kurz einkaufen - etwas Brot, und für den Notfall auch Wasser. Dann bin schon zurück, im Erdgeschoss, warte auf den Fahrstuhl, und plötzlich nehme ich wahr: Hinter mir steht ein Mann mit einer Kalaschnikoff. In meinem Schrecken bringe ich gerade so einen kurzen Gruß hervor und stehe wie erstarrt da. Und plötzlich sagt er zu mir: “Tanja, hallo, das bin doch ich.” Und an der Stimme erkenne ich meinen Nachbarn, der in meinem Stockwerk wohnt 🙂 und die ganze Zeit, die wir zusammen im Fahrstuhl sind, versucht er, mich wieder zu beruhigen. 🙂 Und er sagte, er ist der Einzige (!!!!) aus meinem Haus, der sich an der territorialen Verteidigung beteiligt… Stell Dir das mal vor, es sind doch  über 100 Wohnungen.” Ich erinnere mich daran, dass sie ein paar Tage vorher berichtete, im Haus sei es merkwürdig still geworden. Etwa die Hälfte der Bewohner sei bereits geflohen. Einige kämpfen auch in der Ostukraine gegen die russische Bedrohung. Nur das Kind, das in der Wohnung über ihr lebe, hopse und springe nach wie vor über ihrem Kopf herum, sodass sie innerlich kaum zur Ruhe kommen, sie und ihre liebe Mutter. Ich habe ihm, natürlich, vielmals gedankt. Aber ich war immer noch wie unter Schock (so ein Gewehr hatte ich bisher nur in Filmen gesehen). So habe ich vergessen, ihn zu fragen, ob sie (die territoriale Verteidigung) etwas brauchen und wie wir ihnen zur Seite stehen können. Ich bringe das unbedingt noch in Erfahrung, aber wahrscheinlich bei seiner Mutter. Ich bin normalerweise wirklich nicht ängstlich, und falle auch nicht bei unerwarteten Vorkommnissen in Ohnmacht, aber als ich die Kalaschnikoff so nah gesehen habe.... Oh, je…” 

 

Ich drücke mein Erstaunen ihr gegenüber aus, dass ihr erster Gedanke nach der Begegnung tatsächlich war, wie sie als einfache Bürgerin der TerOborona (der Gebietsverteidigung) Beistand geben kann. Ich weiß nicht, ob das auch mein Gedankengang gewesen wäre. Da mir solche Waffen großen Respekt einflößen, wäre ich wahrscheinlich heilfroh gewesen, dass die Begegnung vorbei war. Mir hätten wahrscheinlich noch lange Zeit die Knie gezittert. 

 

Sie antwortet mir: Der ganzen TerOborona kann ich nicht helfen, aber einigen von ihnen wenigstens, und besonders, wo ich einen von ihnen kenne. Ich weiß, er wird mit den anderen teilen. So kann ich sie unterstützen. Auf welche Weise? Nur etwas backen. Ich bin eine Frau, kann nicht schießen, aber, wenn ich helfen möchte, kann ich wenigstens ein bisschen backen und die übrigen Nachbarn auch dazu motivieren. Dieser junger Mann ist der Einzige aus unserem ganzen Haus, er verteidigt nicht nur seine Familie, sondern auch uns alle, die wir hier wohnen.”

 

Inzwischen sind ja einige Tage verstrichen. Sie schreibt mir, dass die Einschläge immer näher kommen. Dass das Haus zittert. Dass es nachts so laut ist, so dass sie begonnen haben, Beruhigungsmittel zu nehmen, um überhaupt ein wenig schlafen zu können.

 

Sie schickt mir einen Screenshot aus den sozialen Medien. Ein elfjähriger Junge hat sich als Freiwilliger zur Verteidigung gemeldet. Ist ganz allein und zu Fuß dorthin gegangen, obwohl es gefährlich ist, nach draußen zu gehen. War furchtbar enttäuscht, dass sie ihn nicht in ihre Reihen aufgenommen haben.

 

Kinder fühlen den Krieg in seiner gesamten, grausamen Klarheit. Sie stellen die richtigen Fragen und treffen bewundernswerte Entscheidungen, nehmen alle Konsequenzen in Kauf. Für sie gibt es kein Abwägen, kein Wenn und Aber, keine Grauzonen.

 

Und die Ewachsenen weinen herzzerreißend darüber, dass sie sie nicht besser beschützen können.

 

Ich bete darum, dass ihr Haus stehen bleibt. Und für die Kinder, die auf Lösungen drängen.

Ich möchte, dass Gottes Schutz zu jeder Zeit für diese wunderbaren Menschen spürbar bleibt.

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0