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Hör nicht auf zu schmerzen!

und täglich entdecke ich neu entstandene, ukrainische Gedichte im Internet. Gemeinsam haben sie, dass sie durchweg die jüngsten Ereignisse verarbeiten. Am liebsten würde ich sie in Windeseile alle übersetzen und Euch hier zur Verfügung stellen. Ich lerne jedoch mehr und mehr zu verstehen, dass das eine sehr sorgfältige Arbeit erfordert. Und vor allem das Gespräch mit Ukrainern. So öffnet mir gestern eine Freundin die Augen für die Vielschichtigkeit von Oksana Mochs Gedicht vom 7. April (also unter den Eindrücken der Bilder aus Butcha entstanden). Sie weist mich darauf hin, dass die Autorin in der zweiten Strophe bewusst den Ausdruck für eine Schusswunde verwendet hat. Und dass sich im Bündel in der dritten Strophe höchstwahrscheinlich das letzte Stück Brot und eine Ikone befindet. Es geht mir sehr nah, von ihr zu erfahren, dass das Wort ненависть, das ich zuerst irrtümlicherweise mit „Hass“ übersetzte habe, weil ich es aus dem Russischen zu kennen glaubte, im Ukrainischen zwar genauso geschrieben wird. Aber da bedeutete es eher „fassungslose Wut darüber, dass so etwas in unseren Zeiten überhaupt passieren kann“. Wir tauschen uns aus darüber, dass dem Ukrainischen die unflätigen Flüche fehlen. Sie macht mich aufmerksam darauf, dass die Ukrainer generell dazu neigen, Entschuldigungen für einen Feind zu finden und sich um sein Seelenheil Gedanken zu machen. Es muss schon sehr viel Schlimmes geschehen, damit sie jemanden zu hassen beginnen. „Selbst in unserer Nationalhymne verwenden wir nicht das Wort für „Feinde“, nein, da steht eine liebevolle Verkleinerungsform, nämlich воріженьки .“ erklärt sie mir. „Und da ist auch kein Aufruf, sie umzubringen, sondern nur die Hoffnung ausgedrückt, sie mögen doch einfach vergehen wie Tau, der von der Sonne getrocknet wird.“ Ehrlich gesagt weine ich, als ich das höre, weine, weil mir mein eigener Wunsch nach Rache an den Tätern vor Augen steht. Und weil ich diesen mit der geschilderten Langmut vergleiche.

 

Es ist mir wichtig,“ schreibt mir die Autorin selbst, „dass wir Ukrainer den Schmerz im Gedächtnis bewahren, den wir jetzt empfinden. Vergessen wir ihn und ziehen wir keine Konsequenzen daraus, so begehen wir Verrat an den gefolterten Ukrainern und verdammen unsere Kinder zum Leiden. Denn die Geschichte wiederholt sich.“

 

Einfach nur vergeben und vergessen ist in diesem Fall keine Lösung.“ sagt mir auch meine Freundin. „Dasselbe hatten wir nämlich vor 104 Jahren schon einmal.“

 

Doch lest selbst:

 

 

 

 

HÖR NICHT AUF ZU SCHMERZEN

 

 

 

Mein Herr! Oh, lass mir diesen Schmerz!

 

Mög´ Zeit ihn nicht auslöschen, nicht verwischen,

 

Denn hört er auf, so wird das Herz mir stumm,

 

Bösart´ger Schimmel füllt mir meine Seele.

 

 

 

Mein Gott, lass mir die Leere.

 

Möge mein Durchschuss dem Winde schweigsam Austritt geben,

 

Mögen nicht Worte nur, doch Buchstaben auch fehlen,

 

Dass du nicht Illusion, nicht Lügenmär einlässt.

 

 

 

Oh Höchster, lass mir doch die Trauer!

 

Ich wind´ zum Bündel die Last auf meinen Schultern.

 

Verschwind´t mein Mitgefühl, bin ich denn dann noch menschlich?

 

Lässt Du, Gott, Hartgewordene denn ein ins Paradies?

 

 

 

Mein Herr, lass mich doch menschlich bleiben,

 

bedeck nur leicht die Wut mit weißer Farbe.

 

Längst nicht für jemand leb ich … doch an seiner Stelle.

 

Das Land verlier´n wir, wenn die Erinn´rung heilt.

 

Oksana Moch,

7.04.2022

 

 

 

 

Oksana Moch lebt in Lviv. Schon als Kind begann sie zu schreiben, weshalb ihre Mutter sie in einem Literaturstudio unter der Leitung der bekannten Dichterin Maria Lyudkevich einschrieb.

Heute ist sie Redakteurin für Lehrbücher und wissenschaftliche Texte.

Für ihre Lyrik erhielt sie bereits mehrere Literaturpreise.

Ihr Lebensmotto lautet: "Nicht ist unmöglich, wenn an deiner Seite jemand ist, der an dich glaubt."

 

 

Foto: Oksana Moch

НЕ ВІДБОЛИ 

 

 

 

Мій Господи! Лиши мені той біль,

 

Хай не затреться часом, не зміліє,

 

Як відболить бо, серце заніміє

 

І душу заполонить злобна цвіль. 

 

 

 

Мій Боже, залиши порожняву.

 

Хай мовчазний навиліт свище вітер, 

 

Нехай бракує вже не слів, а й літер,

 

Лиш ілюзорну не впусти брехню. 

 

 

 

Всевишній, залиши мені печаль — 

 

Згорну у вузлик, той що за плечима. 

 

Як зникне жаль, чи ж я хіба людина?

 

А чи ж черствих впускаєш, Боже, в рай? 

 

 

 

Мій Господи! Лиши в мені людське,

 

Лиш вибіли хоч трішечки ненависть.

 

Живу вже не лишень для когось... Замість!

 

Загубим край, як пам'ять заживе! 

 


 

7.04.2022 р.

 

©   Оксана Мох

 

#Думки_з_шухлядки

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Angelika Holzwarth-Kocher (Freitag, 15 April 2022 13:28)

    Danke! Ich lasse die Worte nachklingen, sie füllen jede Ecke und jeden Raum. Danke!