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Wir leben doch hier

Tulpen gegenüber der Hauptpost am Kyjiver Maidan

 

Eigentlich wollte ich Facebook so spät am Abend gar nicht mehr öffnen. Doch die Story einer Freundin aus Kyjiv macht mich neugierig. Ich sehe ihre Tochter zum Fenster gewandt am Schreibtisch sitzen. Das Bild wechselt und zeigt eine gepflegte Hand mit frisch lackierten Nägeln. Ein gedecktes Grasgrün. Zögerliche Maienfreudenfarbe.

Drei Tage bleiben noch bis zum magischen 9. Mai, dem "Tag des Sieges", dem großen Gedenken daran, wie einst Russland mit Hilfe der ukrainischen Armee in Berlin einmarschierte. Ich muss den Finger auf die Bilder legen, um ihre Unterschrift lesen zu können, diese Stories sind als Eintageseindrücke angelegt, dazu gedacht, für den Betrachter schnell wieder zu verlöschen und nicht mehr auffindbar zu sein. "Morgens, fünf Minuten vor dem Luftalarm" hat sie dazu geschrieben. Und schon öffnet sich ein neues Bild: Die kleine Tochter beim Spielen draußen im Hof. Später erinnere ich mich nicht mehr genau, wahrscheinlich mit Straßenmalkreide, auf alle Fälle unbeschwert lächelnd. Der Text dazu: "Abends, fünf Minuten vor dem Luftalarm". Kyjiv Zentrum.

Mich drängt es, zu reagieren, ihr ein Zeichen zukommen zu lassen, dass ich an sie denke. Nach wie vor bewundere ich ihre Entscheidung, mit beiden Kindern im Land, in der Stadt geblieben zu sein. Was sind die richtigen Worte? Ich zögere, tippe dann "Fünf Minuten davor...". Sehe nur kurz nach der Information, die ich eigentlich gesucht habe. Da trifft schon eine Privatnachricht von ihr ein. Videos der kleinen Tochter beim Musizieren mit ihrer Musikpädagogin. Und Fotos einer Tulpenpracht. Ich staune: Die Umgebung ist mir so vertraut. Der Maidan. Oh Gott, der Maidan erstrahlt in Meeren von Tulpen. Wunderschön! Keine alten Bilder. Die Kleine hat sich vor einem der riesigen Tulpenbeete postiert und lächelt freundlich ins Bild.

Ich drücke ihr mein Staunen und meine Begeisterung aus. "Ja, wir gehen hin und wieder dort spazieren. Und fotografieren uns." schreibt sie mir. Und dass sie uns in der Hauptpost eine der legendären Briefmarken mit dem russischen Kriegsschiff besorgt hat und für uns aufhebt.

Neulich, einen Tag nach dem Staatsbesuch von Guterres, war sie mit ihrem Töchterchen in dem Stadtbezirk, wo die Rakete in das Hochhaus einschlug. Sie erzählte mir von dem, was sie dort gesehen hatte: Nicht nur das Hochhaus war betroffen, in vielen Gebäuden waren die Fenster eingedrückt, Fenstergitter herausgerissen, auch kleine Privathäuser getroffen. "Sie war sehr geängstigt. Und sie lebt doch tagaus tagein dort. Man hat einfach keine Worte mehr."

Damals, als wir noch in Kyjiv lebten, war ich auch oft gerade in diesem Bezirk unterwegs. Der Kindergarten meiner Tochter war gar nicht weit entfernt.

 

Aus deutscher Sicht denkt vielleicht der Eine oder die Andere, in Kriegszeiten sei es nicht angemessen, die Flaniermeile der Hauptstadt so zu schmücken. Beim genaueren Hinsehen wird zumindest mir klar, dass es den Ukrainern viel bedeutet. Es ist ein Zeichen ihrer Würde, das, was sie sind und sich in schwerer Arbeit erarbeitet haben, zu hegen und sich weiterhin gepflegt zu zeigen. Sie wissen: Wir sind keine Barbaren. Und wir leben hier. Nicht erst seit gestern. Sie wissen, dass Schönheit, die das Auge aufnimmt, der Seele gut tut. Und das ist jetzt, gerade jetzt, besonders notwendig.

Die jüngere Tochter meiner Freundin in Kyjiv.

Die drei aktuellen Fotos hat sie mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

 

"Die größte Angst eines Kommandeurs" schreibt er - und ich staune: Der überzeugte Pazifist ist jetzt Kommandeur. Im Osten. "Die größte Angst, die mich besonders nachts nicht schlafen lässt, ist, schon wieder Angehörigen mitteilen zu müssen, dass ihr lieber Sohn, Bruder, Vater gefallen ist. Übrigens wüsste ich nicht, wie wir ohne die zahlreichen Freiwilligen hier klarkommen sollten."

 

Ein anderer Freund, einer aus Sumy, fragte auf FB vor etwa vier Wochen, ob es seinen Bekannten auch so ergehe wie ihm: Ohne dass er es steuern kann, kommen ihm über den Tag verteilt immer wieder die Tränen. Ich kenne ihn als so humorvollen, witzigen Menschen ... Inzwischen schreibt er lange Beiträge mit Überlegungen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Darüber, dass durch die russische Weltliteratur immer wieder die verächtliche Einstellung gegenüber dem sogenannten "Kleinrussland" (so wird die Ukraine auch von namhaften Autoren abwertend bezeichnet) hindurchschimmert. Und dass die Menschenrechtsverletzungen in den von den Russen besetzten Gebieten aus ebendieser noch dazu ins Maßlose aufgebauschten Einstellung resultieren. Er lenkt den Augenmerk des Lesers darauf, dass jetzt auch für die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken ein guter Zeitpunkt wäre, sich ihrer eigenen Identität zu besinnen und die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Er hat wieder mit Joggen angefangen. Und er sehnt sich nach Frau und Tochter, die sicherheitshalber im Ausland weilen.

Als ich den Artikel fertig geschrieben und schon ins Netz gestellt habe, entdecke ich: Vor einer Stunde hat er berichtet, dass heute in den Gemeinden Miropil und Chotin im Bezirk Sumy ukrainische Grenztruppen von russischen Flugzeugen und Raketen beschossen wurden. "Die Vorbereitungen zum großen Tag des Sieges haben begonnen." kommentiert er bitter.

 

Bei uns klingelte es gestern an der Haustür. Als ich, die Post erwartend, nach Maske und Lesebrille griff und die Haustür öffnete, standen drei "unserer" Flüchtlingsfrauen, die wir aus unserer Kyjiver Zeit kennen, vor der Tür. "Nur für fünf Minuten, wir wollen Sie nicht stören, wir sind auf dem Rückweg von Wunsiedel und hatten Sehnsucht nach Ihnen." Eine zartrosafarbene Hortensie und Mozartkugeln hatten sie für mich besorgt und erzählten sprudelnd von ihren Erlebnissen. Dass es ihnen so gut tut, in Selb spazieren zu gehen und dass sie davon träumen, sich zum Andenken schönes Porzellan aus Selb zu kaufen, wenn sie nach Kyjiv heimkehren. Davon, dass der Lehrer im Sprachkurs ein goldenes Herz hat und unendlich geduldig mit ihnen ist. Alle bewundern sie den Strauß auf unserem Esstisch. Die Eine bestimmt jede einzelne Blume darin mithilfe einer App und erklärt uns, die eine Blume stamme aus Neuseeland und habe den und den gesunden Inhaltsstoff. Dann bricht es aus der Anderen hervor: "Ich habe solche Angst vor dem 9. Mai. Vor diesen ganzen Maifeiertagen."  Sie ist nicht wenig erstaunt, als ich antworte, dass der einzige Feiertag im frühen Mai bei uns schon vorbei ist. Dass wir  Deutschen da nicht direkt etwas zu feiern haben, leuchtet ihr ein: "Trotzdem: Haben Sie auch davon gehört, dass Putin vorhat, bei der Parade am 9. Mai ukrainische Kriegsgefangene vorzuführen? Man sagt sogar, er wird eigene Leute so herrichten, als seien sie Ukrainer. Damit das Volk ihn bejubeln kann ..."

Als sie nach kurzer Zeit wieder aufbrechen, stockt die Eine in unserem Treppenhaus und betrachtet eingehend die große ukrainische Flagge, die uns 2015 zum Abschied von der Initiative E+ geschenkt wurde. Die Ärzte haben damals Dankesworte an Ralf daraufgeschrieben. Unter anderem auch die Kriegsschauplätze, zu denen sie damals die in unserer Kirche St. Katharina gepackten, kleinen Feldapotheken gebracht haben. "Kramatorsk" liest sie laut. Und fügt hinzu: " ... gibt es nicht mehr ... Mariupol ... ist ausgelöscht ... Schastja ... ist praktisch auch ausgelöscht ..."

 

"Kannst Du noch Nachrichten gucken?" wurde ich in den letzten Tagen mehrfach gefragt.

"Kannst Du die Bibelauslegung bitte ändern, in der Du Bezug auf Stanislav Aseyevs Buch genommen hast? Die Menschen brauchen doch jetzt vor allem Zuspruch, die Zusage der unendlichen Liebe Gottes ..."

 

Auch wenn ich abends Facebook nicht mehr öffnen möchte: Ich denke, wir sollten hinsehen. Wir sollten die Augen öffnen für die Würde dieses gepeinigten Volkes.

Möge Christus die Ukraine in der Kraft Seiner Auferstehung segnen und schützen!

Tulpen über dem unterirdischen Einkaufszentrum Globus am Maidan in Kyjiv

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