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Selbst, wenn wir nicht davon schreiben ...

Neulich Nacht konnte ich wieder mal nicht einschlafen. Nachdem ich mich ständig von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, griff ich schließlich entgegen meiner Gewohnheit zum Smartphone und las weiter von meinen ukrainischen Freunden. "Ich habe den Eindruck," schrieb da eine junge Journalistin, die kürzlich mit Kind nach Kyjiv zurückgekehrt ist, "dass die Leute hier doch ein gutes Stück entspannter sind, als in Winnyzja. Ich sehe viele Leute auf den Straßen flanieren und Frauen in Cafes ihren Cappucchino genießen. Haben sie schon so viel Abstand von den Ereignissen?" Die darauf folgende Diskussion ihrer Leser muss ich für Euch rekonstruieren. Die verschiedenen Stellungnahmen gewährten dem Mitleser nämlich tiefen Einblick ins derzeitige Nervenkostüm der Menschen. Ich kann verstehen, dass die junge Frau den FB-Eintrag mitsamt Kommentaren unsichtbar gemacht hat. "Weißt Du," schrieb da beispielsweise eine Freundin, "wenn ich mit Menschen einen Kaffee trinken gehe, wie früher, dann wahre ich wenigstens ein Restchen meiner Würde. Es nützt doch niemandem, wenn ich mich die ganze Zeit zitternd zuhause verkrieche." Viele berichteten spontan davon, dass sie kaum Schlaf finden. Und dass sie innerlich keineswegs zur Tagesordnung übergehen können. Wie auch? Der Krieg ist allegenwärtig ...

 

 

 

 

Das Gedicht von Natalia Vogel aus Uzhgorod (ihr Pseudonym:  Fonata) entstand zwei Tage vor dem magischen Datum des 9. Mai, der von Russland als Tag des Sieges über den Faschismus gefeiert wird und im Jahr 2022 für die Ukraine viel Schlimmes befürchten ließ. Es berührte mich beim ersten Lesen sofort. Sogar so sehr, dass es sich mir gleich einprägte. In der Fülle der ukrainischen Gedichte, die ich seit dem 24. Februar mittlerweile gesammelt habe,  gehört es zu denen, die ich auf meiner Seite unbedingt zugänglich machen möchte.

 

 

Nicht werd ich schreiben

 

Nicht werd ich schreiben über den Krieg …

Kann sein, dass er plötzlich verschwindet,

Aufsteigen wird sie, die Dämmerung,

Wird den Alpdruck des Schlafes erleichtern.

 

Nicht werd ich schreiben über Gefechte,

Über Raketen und Aufklärungsdrohnen…

Mögen doch Herden von Schäfchenwolken 

die Grenzen des Himmels schützend bedecken …

 

Nicht werd ich schreiben über die Witwe,

Nicht von den Waisen, ergrauten Müttern …

Es wirft in Verzweiflung der Zwetschgenbaum

Blüten als Tränen ins junge Gras.

 

Nicht werd ich schreiben über die Städte,

Die vergewaltigt, in Stücke gerissen …

Ich überkleb´ mit der Marke den Umschlag,

Den Briefbogen, den ich nicht abgesandt …

 

Ich werde schreiben über den Frühling,

Über die Liebe oder das “Einhorn”,

Wie wir den Sieg erkämpfen werden,

nun, und einstweilen … über den Krieg …

 

Natalia Vogel

7.05.2022

 

 

Die Marke! Sie gibt die Szene auf der umkämpften Schlangeninsel wieder, bei der die ukrainischen Verteidiger den Angreifern zuriefen "Russisches Kriegsschiff, f*** dich!" Der heldenhafte Mut dieser ukrainischen Soldaten machte die Marke so begehrt, dass die Menschen in unendlich langen Warteschlangen vor dem Postamt nach ihr anstanden.

Foto: Ukrainische Post

Не писатиму...

Не писатиму про війну...

Може, раптом її не стане,

І прийдешній новий світанок

Від жахливого збавить сну...

 

Не писатиму про бої,

Про ракети і байрактари...

Хай хмаринок пухких отари

Закривають небес краї...

 

Не писатиму про вдову,

Про сиріт чи про маму сиву...

Скине з розпачу давня слива

Сльози-цвіт в молоду траву...

 

Не писатиму про міста,

Що зґвалтовані і роздерті...

Вклею маркою на конверті

Невідправленого листа...

 

Я писатиму про весну,

Про любов чи "єдинорога"...

Як здобудемо перемогу,

Ну, а поки що.... про війну...

20💛💙🌷 Fonata 🌷💙💛22

7.5.22

 

 

Gegen Ende meiner Schulzeit fürchtete ich zwar stets Aufgabenstellungen, bei denen Gedichte interpretiert werden sollten. Ließen sie sich nicht umgehen, so entdeckte ich jedoch schnell, dass bei der intensiven Auseinandersetzung mit Lyrik so viel in und zwischen den Zeilen zu entdecken war, dass die von den Texten ausgehende Faszination mich immer mehr in ihren Bann zog. Bezüglich meiner Entdeckungen dabei fragte ich mich öfters, ob der Autor all diese Feinheiten bewusst so eingeflochten hatte, oder ob im Zuge der Interpretation schlichtweg meine Phantasie mit mir durchgegangen war. Umso mehr genieße ich es jetzt, mit den ukrainischen Dichterinnen und Dichtern ins Gespräch zu kommen, dabei sprachliche Missverständnisse auszuräumen und Hintergründe zu erfahren.

An meiner Konversation mit Natalia Vogel möchte ich Euch teilhaben lassen, da sie mir den Blick auf wichtige Details eröffnet hat.

Bedienen sich die Autoren hintergründiger Sprache, so komme ich nicht umhin, nachzuhaken, welche der verschiedenen Bedeutungen eines Begriffs an dieser Stelle passend sind. Zudem reichen auch sechs Jahre intensiven Lebens in der Ukraine und etwa zwölf Jahre ukrainischer Lektüre und Konversation bei weitem nicht aus, um alle Zusammenhänge zu erfassen. Ich fragte Natalia also nach dem Bild der Dämmerung im ersten Vers. Ihre Antwort berührt mich zutiefst: "Die erste Strophe handelt von unserem Traum, aufzuwachen und von diesem Albtraum befreit zu sein ... Aber noch ist es nicht soweit und wird auch nicht soweit kommen, einfach, weil ich nicht davon schreiben werde ... Aber das was wir uns am meisten wünschen, ist, dass eben diese Dämmerung beginnen möge."

 

Auch beim Bild des Zwetschgenbaumes bin ich mir nicht im Klaren. Sie erläutert: "Hier besteht eine Parallele zur Ukraine und ihren Kindern: Söhne und Töchter sind gefallen und es werden noch weitere fallen." Wie schmerzlich ist es doch, wahrzunehmen, wie das, was noch nicht reifen durfte und doch Frucht für die Zukunft bringen soll, das Schöne und Kraftvolle, das Hoffnung bringt, vom Zwetschgenbaum losgelassen werden muss.

 

Mit dem Begriff "Bayraktar" in der zweiten Strophe kann ich zunächst gar nichts anfangen. Das umfangreiche, ukrainisch-ukrainische Online-Wörterbuch, eine wahre Fundgrube, gibt als Nebenbedeutung eine zugewachsene Schlucht an. Ob die Autorin an Verstecke in der Natur denkt, die die Menschen in Ermangelung von Luftschutzkellern aufsuchen? - Sie entgegnet: "Bayraktar ist ein Flugobjekt, eine Waffe." Beim Googeln entdecke ich dann auch die mit einem türkischen Begriff benannten Kampfdrohnen.

 

Sehr warmherzig und weich beschreibt die nächste Zeile des Gedichtes die Wolken. Diesmal, so lese ich aus ihrer Antwort, liege ich mit meinem Verdacht richtig: Die immer wieder flehentliche Bitte der Ukrainer nach einer umfassenden Flugverbotszone unter dem Schutz der Nato wurde im Ukrainischen etwa so ausgedrückt: "Bedeckt unseren Himmel" bzw. "Schließt unseren Himmel!" Meine Frage, ob ich sie richtig verstanden habe, beantwortet die Dichterin ganz schlicht: "Ja. Wenn man schon über uns den Himmel nicht bedeckt, so sollen das wenigstens die Wolken tun."

 

 

"Mit der Marke ist es vielschichtiger - und zugleich einfacher zu erklären: Einerseits sammeln viele Menschen Briefmarken. Und da diese Marke in sich den ganzen Schmerz trägt, über den wir nicht schweigen sollten, wird sie auf den Umschlag geklebt.

Doch andererseits ist es nicht mehr möglich, den Umschlag abzuschicken, weil es viele der Empfänger bereits nicht mehr gibt. Man kann  die Marke mit dem Kriegsschiff mit einflechten, denn sie zeigt die Richtung, in die es fährt."

 

Den schönen Umschlag, auf dem die Nationaldichterin Lessja Ukrajinka abgebildet ist, hat vor wenigen Tagen eine unserer engen Kyjiwer Freundinnen meinem Mann mitgegeben, der vom 7. bis 15. Juni 22 die Kirchengemeinde St. Katharina in Kyjiw besucht hat. Die inliegenden  Zeilen der Freundin sind schmerzerfüllt. Das Gedichtzitat an der Unterkante des Briefumschlages hat sie mit Klammer und Ausrufezeichen für uns markiert. Die zeitlebens durch schwere Krankheit eingeschränkte Dichterin Lessja Ukrajinka schreibt da:

"Nein! Ich lebe! Und ich werde ewig leben!

Im Herzen hab ich das, was niemals sterben wird."

Die Marke, nach der eine andere Freundin, alleinerziehende Mutter zweier minderjähriger Töchter, in einer endlosen Schlange vor dem Kyjiwer Hauptpostamt am Maidan für uns anstand, passt meiner Ansicht nach sehr gut auf diesen Umschlag. Welch bedeutungsvolles Erinnerungsstück!

 

Das Einhorn, das Natalia Vogel in der letzten Strophe nennt, kann im Ukrainischen das heutzutage so populäre Fabelwesen sein. Doch außerdem bezeichnet man mit dem selben Wort eine bestimmte Haubitze.

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Kommentare: 1
  • #1

    Friederike G. (Freitag, 17 Juni 2022 21:02)

    Das Gedicht geht unter die Haut, selbst wenn man von den Hintergründen nichts weiß. Vielen Dank für die Nachdichtung und vor allem für die informativen und einfühlsamen Erläuterungen!