Mir kriecht die Kälte in die Knochen, ich ziehe mir nachts die warme Decke fest um den Leib, wenn ich daran denke, wie meine ukrainischen Freunde dem Umstand ausgesetzt sind, dass Russland rücksichtslos ihre Energieversorgung zerstört. Ich stelle mir vor, wie ich in einem solchen Fall versuchen würde, alle Ritzen der Wohnung mit Stoffresten auszustopfen und meinen Tagesrhythmus so zu gestalten, dass ich sofort eine warme Mahlzeit zubereiten kann, sobald Strom oder Gas kurz verfügbar ist.
Mich würde es nicht wundern, wenn das ukrainische Internet jetzt von Wut- und Hassposts gegen das feindliche Nachbarland überquellen würde. In der Gedichtegruppe, die ich schon länger als ein Jahr beobachte, entdecke ich hingegen ein völlig anderes Phänomen:
Am 16. Oktober 2022 schreiben die Moderatoren der Gruppe einen neuen Literaturwettbewerb aus, und zwar zum Thema "Kriegsherbst", als Vorbereitung auf den "Tag der ukrainischen Schrift und Sprache", der am 9. November begangen wird. Fasziniert lese ich die Ausschreibung:
Der Wettbewerb soll in zwei Etappen stattfinden, von denen die erste die Anzahl der Teilnehmer der zweiten Runde durch Auswahl auf
33 begrenzt. Die Zahl 33 kommt nicht von ungefähr, es ist die Anzahl der Buchstaben im ukrainischen Alphabet. Die Mitglieder der Gruppe sind aufgerufen, gemeinsam ein Gedicht zu
erschaffen, dessen Zeilen mit den Buchstaben des Alphabets in dessen Reihenfolge beginnen sollten. Damit die Aufgabe nicht zu einfach ist, aber noch mehr, um ein kunstvolles
Gemeinschaftswerk entstehen zu lassen, soll jede Zeile dreizehn Silben aufweisen. Auch ein Reimschema ist vorgegeben: In den Strophen von jeweils vier Zeilen sollen sich die erste und dritte
Zeile reimen, und natürlich die vierte auf die zweite. Die Schlusszeile des Gedichts (auch daran wurde beizeiten gedacht) soll zu guter Letzt den vorangegangenen Reim aufnehmen. In der zweiten
Etappe treten die Gewinner des ersten Durchgangs mit je einem eigenen Gedicht über die ukrainische Sprache an.
Ich möchte Euch heute das Ergebnis der ersten Etappe vorstellen.
Die Anfangszeile wurde von den Moderatoren vorgegeben. Sie fordern die Teilnehmer dazu auf, in den Kommentaren jeweils ihren Vorschlag für die nächste Zeile anzubieten. Dadurch, dass ich genau am Wochenende, als die Ausschreibung erscheint, mit der 3. Buchmesse im Fichtelgebirge beschäftigt bin und ausnahmsweise mein Facebook nicht öffne, übersehe ich den Wettbewerb zunächst und bin in den Tagen danach völlig überwältigt davon, als Beobachterin dem lebendigen Prozess der Entstehung eines Gedichtes auf hohem Niveau beiwohnen zu dürfen. Es ist wirklich atemberaubend, mitzubekommen, wie die Dichter nicht etwa um eines Gewinnes willen wetteifern, sondern sich bei den Moderatoren für deren großartige Idee bedanken und zugleich geniale und hintergründige Bausteine liefern. Oksana Moch und weitere Moderatorinnen der Gruppe erklären auf verschiedene Rückfragen hin wiederholt die Bedingungen des Wettbewerbs und rufen dazu auf, ihn auch weiter im Netz zu verbreiten. Olena Bogutska steuert aus dem Stand bereits am 17. Oktober ein vollständiges Alphabetsgedicht passend zum Thema bei.
Schon bei den ersten Zeilen treffen sehr viele Ideen ein. Die Moderatorin Nina Boyko schreibt schon bald: "Gott, wie schwer ist es doch, auszuwählen! Freunde, Ihr seid unübertrefflich! Diejenigen, deren Zeilen wir nicht auswählen, schreiben bitte ihre eigenen Gedichte mit diesen Anfängen. Denn diese sollen leben!" Von jedem Autor darf nur eine einzige Zeile in der Endversion vorkommen. Wurde seine Zeile beim ersten Versuch nicht verwendet, so hat er die Möglichkeit, sich an den folgenden Zeilen zu versuchen. Für die Buchstaben "и" und "ь", die im Ukrainischen nicht am Anfang eines Wortse stehen, gibt es kleine Sonderregelungen: Das "и" darf als zweiter Buchstabe des ersten Wortes erscheinen. Aber siehe da, Marina Zozulya aus der Umgebung von Charkiw findet sogar einen Ausruf mit "и" als Anfangsbuchstaben. Das Weichheitszeichen "ь" darf an beliebiger Stelle im ersten Wort enthalten sein. Aus insgesamt 3024 Kommentaren der Teilnehmenden erwächst ein stimmiges, kraftvolles und sprachlich beeindruckendes Gedicht. Autoren aus dem gesamten Gebiet der Ukraine sind beteiligt, auch aus den besetzten Gebieten. Am 23. Oktober ist es weit vor dem letztmöglichen Abgabetermin fertig, eigentlich war der 5. November dafür angedacht.
Welch großartiges Zeugnis von Solidarität und gegenseitiger Ermunterung und Unterstützung in schweren Zeiten! Großartig, wie Ukrainer ihre Kreativität einsetzen, um
ihre Identität zu wahren und einander zu stärken! "Unsere Sprache ist unsere Waffe!" lese ich immer wieder bei den verschiedensten Autoren. Wo könnte es sich deutlicher zeigen, dass ein Volk
eigenständig und souverän ist, als in der Pflege und Wahrung der eigenen Sprache, die Russland über Jahrhunderte unterdrückt und kleingeredet hat? Zum Glück erfolglos ...
Bei der Übertragung ins Deutsche habe ich darauf verzichtet, das Gedicht in den stilistisch vorgegebenen Rahmen des Wettbewerbs zu pressen. Mir war es wichtiger, den Inhalt so genau wie möglich wiederzugeben. Mein Versmaß entspricht natürlich nicht dem originalen Versmaß. Solomiia Shchur, die mir viele wertvolle Erläuterungen gegeben hat, vor allem den Inhalt betreffend, weist darauf hin, dass das ukrainische Original viel zärtlicher klingt, als meine deutsche Version.
Kriegsherbst
Aber weißt du, oh Herbst, Raketen durchziehen den Himmel,
Schon lange schmerzt ihn diese Grafik, blutgetränkt.
Es zelebriert der Krieg das finst´re Ritual des Satans,
Im Tanze stampft der Feind, doch unser Ruhm erlischt nicht.
Den Nährboden erwärmt nach der Schlacht ein rotes Blatt.
Mit Regengüssen, Herbst, wasch ab die bitt´ren Tränen!
Noch schweigt der Äther des Oktobers. Natürlich ist´s zu früh …
Die einzig wahrhaften Prognosen gibt nur Gott.
Der Dahlien Farbe glüht - wie kleine, warme Sonnen geh´n sie auf -
Entfacht den Lebensfunken in den freien Seelen.
Ach! Nein, er gibt sich nicht geschlagen! Auf blüht sie, allen zum Erstaunen!
Sehnsüchtig zieht´s uns in der warmen Strahlen Arme.
Der Wind trägt des beißenden Rauches Bitterkeit auseinander,
Auch ihm brennt der Krieg im Herzen, zwischen den Rippen.
Einst flog er selbstverliebt um die Welt,
Jetzt bleibt er traurig am Boden, entlang der Allee.
Erneut widerspricht die Zukunft der Vergangenheit,
Das schnelle Wasser trägt den Fluss voller Trauergeschichten …
Oh, wo seid nur, Ihr Engel - nicht etwa alle schon eingeschlafen? -
Die Wahrheit pulsiert noch, trotz langem, verwirrendem Kampf!
Zerstör, oh Herbst, des Feindes Raubtierpläne,
Erstick mit dichten Nebeln der Sirenen Heulen,
Der Feinde Schwarm wie zitternd´ Laub mög´ werden
Mit duftenden Kräutern kandiert, Triumph auch zum Winter hin!
Beschleunige, oh Zauberfee, das schnellstmögliche Siegen,
Choräle präg geschickt ins menschliche Gedächtnis ein!
Erblühen mög´ in golden-gelbem Epiloge
Die Zeit von Glaube, Tapferkeit und ungebrochner Kraft!
Der Stürme unermesslich viele fielen unserm Schicksal zu,
Der Wunden Vielzahl reißt in dumpfen Schmerz die Seel´ in Fetzen …
Mögen die Fesseln langer Sklaverei doch fallen,
Mit ihnen fall die grobe Rotte, das Haupt des Tyrannen!
Es strahl´ das Herze! Ruhm der Ukraine, Ehre!
23.10.2022
Nun noch einige Erläuterungen zum Hintergrund. Denn man müsste schon ein großer Künstler sein, um die Vielschichtigkeit von Texten in einer Fremdsprache wiederzugeben, wenn man den Rahmen eines lyrischen Werks nicht völlig sprengen möchte.
In der zweiten Strophe habe ich "Дощами" mit "Regengüssen" wiedergegeben. Im Deutschen kennt "Regen" ja keine Pluralform. Solomiia Shchurs Antwort auf meine Frage, ob Regentropfen gemeint sein könnten, berührt mich sehr: "Eher mehrmaliger Regen, wieder und wieder, bis man nicht mehr erkennen kann, ob es Tränen in unseren Gesichtern sind, oder nur der Regen."
In der fünften Strophe finden wir das starke Bild eines Fluss in Verbindung mit Trauergeschichten. Die ukrainische Geschichte mit dem russischen Nachbarn wird hier als reißender Fluss trauriger Erlebnisse betrachtet, der in der Gegenwart vom Zufluss neuer unerträglicher Geschichten übersättigt wird.
Die Erwähnung des Laubes in der sechsten Strophe ist dichterisch genial. Natürlich geht es hier einerseits um das Herbstlaub, doch beinhaltet die folgende Zeile das Wissen um die häusliche Zubereitung von Süßigkeiten: In der Ukraine setzt man beim Kandieren von Früchten gerne aromatische Kräuter und Blätter zu, um den Geschmack zu verfeinern. Beim Übersetzen hörte ich auf den ersten Blick mit meinem deutschen Ohr aus der Vokabel "зацукрованім" freilich nur das Überzuckern heraus, das wir Deutschen den ersten, zarten Schneeflocken andichten. Ich bin dankbar für die Möglichkeit, nachfragen zu dürfen und ganz andere Ebenen zu entdecken, die für die ukrainischen Leser ganz selbstverständlich mitklingen.
Воєнна осінь
А знаєш, осене, ракети креслять небо,
Болить давно йому ця графіка кривава.
Війна справляє сатанинську чорну требу,
Гарцює ворог, та не меркне наша слава.
Ґрунти зігріє після бою лист багряний.
Дощами, осене, змивай болючі сльози!
Етер жовтневий ще мовчить. Напевне, рано...
Єдиноправедні лиш Бог дає прогнози.
Жоржини цвіт — неначе сонця теплі сходи
Запалить іскру до життя у душах вільних
Ич, не здається! А квітує всім на подив!
І до проміння щиро тягнеться в обійми.
Їдкого диму гіркоту розносить вітер,
Йому війна також пече у міжребер'ї.
Колись літав собі закоханий по світу,
Лишень тепер сумний гуляє по алеї.
Майбутнє знову сперечається з минулим,
Несе вода стрімка потік сумних історій...
О де ж ви, Янголи, невже усі поснули? —
Пульсує правда ще у битві неозорій!
Руйнуй же, осене, ворожі, хижі плани,
Сирен виття гаси туманами густими
Тремтливим листям хай ворожа зграя стане
У зацукрованім тріумфові на зиму!
Форсуй, чаклунко, якнайшвидшу перемогу,
Хорали в пам’яті людській карбуй уміло!
Цвістиме жовто-золотавим епілогом
Час віри, мужності, незламності та сили!
Штормів незмірено припало нашій долі,
Щемливо душу рве на шмаття кожна рана...
ЗлетятЬ кайдани многолітньої неволі,
Юрба загарбницька і голова тирана!
Яріє серце! Україні слава й шана!
Liste der Autoren, die mitgewirkt haben:
1. А Зоряна Зелена Львівщина (Soryana Selena, Bezirk Lviv)
2. Б Віра Подольська Вінничина (Wira Ppodolska, Bezirk Winnizya)
3. В Алла Бабенко Сумщина (Alla Babenko, Bezirk Sumy)
4. Г Галина Рогова Кіровоградщина (Halyna Rogova, Bezik Kirovograd)
5. Ґ Юнна Шульга Черкащина (Junna Schulga, Bezirk Tscherkassy)
6. Д Юлія Кострова м.Суми (Julia Kostrowa, Sumy)
7. Е Arendar Nina Чернігівщина (Nina Arendar, Bezirg Tschernihiw)
8. Є Галина Кухаришин Тернопільщина (Halyna Kucharyschyn, Bezirk Ternopil)
9. Ж Leon Clerk Чорногорія (Leon Clerk, Montenegro)
10. З Слава Слободян Хмельниччина (Slava Slobodyan, Bezirk Chmelnitsky)
11. И Marina Zozulya Харківщина (Marina Zozulya, Bezirk Charkiw)
12. І Віта Тимченко-Орлова Кіровоградщина (Wita Tymchenko-Orlowa, Bezirk Kirowograd)
13. Ї Антонина Подмогильная Дніпропетровщина (Antonina Podmogylnaya, Bezirk Dnipro)
14. Й Тетяна Савчук Хмельниччина (Tetyana Sawchuk, Bezirk Chmelnitsky)
15. К Мирослава Кравчук Рівненщина (Miroslawa Krawtschuk, Bezirk Riwne)
16. Л Оля Більчук Тернопільщина (Olya Biltschuk, Bezirk Ternopil)
17. М Ірина Калина Луганщина (Iryna Kalina, Bezirk Luhansk)
18. Н Олена Заброда м.Київ (Olena Sabroda, Kyjiw)
19. О Інна Гончар Чернівецька обл. (Inna Honchar, Bezirk Cherniwtsy)
20. П Катерина Гасій Тернопільщина (Kateryna Hasiy, Bezirk Ternopil)
21. Р Zinaida Blahun Чернівецька обл.(Zinaida Blahun, Bezirk Cherniwtsy)
22. С Ірина Залюбовська Полтавщина (Iryna Saliubowska, Bezirk Poltawa)
23. Т Тамара Івусь Київщина (Tamara Iwus, Bezirk Kyjiw)
24. У Юлія Талько Житомирщина (Julia Talko, Bezirk Zhytomyr)
25. Ф Мар'яна Сало Львівщина (Maryana Salo, Bezirk Lviv)
26. Х Вера Зозуля Харківщина (Wera Sosulya, Bezirk Charkiw)
27. Ц Олександр Рубан Дніпропетровщина (Oleksandr Ruban, Bezirk Dnipro)
28. Ч Сергій Рубан Дніпропетровщина (Serhiy Ruban, Bezirk Dnipro)
29. Ш Марина Акрам Індія (Maryna Akram, Indien)
30. Щ Світлана Вітер Житомирщина (Svitlana Witer, Bezirk Zhytomyr)
31. Ь Зоряна Кіндратишин Львівщина (Soryana Kindratyschyn, Bezirk Lviv)
32. Ю Наталия Леонова м.Одеса (Natalya Leonowa, Odesa)
33. Я Світлана Суниця Київщина (Svitlana Sunytsya, Bezirk Kyjiw)
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Johannes Richter (Mittwoch, 09 November 2022 03:03)
Sehr beeindruckend.