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Kritisiere, ohne zu zersetzen!

Schon öfter habe ich Euch von der Facebookgruppe ukrainischer Dichter erzählt, der ich auf Facebook folge, und Euch Gedichte ihrer Teilnehmer vorgestellt. Es ist die Gruppe Всеукраїнська поетична родина (Gesamtukrainische Poetische Familie) bei der ich mit Spannung und Vergnügen mitlese. Eigentlich war ich ihr in der Coronazeit beigetreten, um meine Ukrainischkenntnisse zu verbessern. Seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine profitiere ich besonders von ihr. Denn sie ist mir ein Spiegel der Stimmung im Lande.

 

Natürlich ist es für mich als Schriftstellerin immer besonders interessant, vom Wirken, Techniken, Erfolgen und Anstrengungen anderer Autoren zu erfahren. Allerdings hätte ich nicht erwartet, in dieser Gruppe so viele inspirierende Anregungen zu bekommen. Die Administratoren, die allesamt ihren anstrengenden Berufen nachgehen, haben ein wahres Feuerwerk von Ideen, das gemeinsame literarische Leben zu gestalten. Insgesamt gefällt mir der warme Ton unheimlich gut, in dem die Gruppenmitglieder miteinander umgehen. Manchmal gibt es freilich auch Beschwerden, besonders von Amateurdichtern, die sich anderen gegenüber zurückgesetzt fühlen. Eine Poetin ging beispielsweise kürzlich vorwurfsvoll die Administratoren an, nie bekämen ihre Gedichte „Gefällt mirs“, niemand schreibe etwas Lobendes dazu, ja, sie werden in der Chronik überhaupt nicht angezeigt. Dabei seien ihre Gedichte doch voller Aufrichtigkeit und Liebe.

 

 

 

Solche Äußerungen von Missmut kosten die Administratoren stets viel Zeit und Kraft. Und ich staune immer wieder, in welch sorgfältigem, gemessenem Ton sie auf ungerechtfertigte Beschuldigungen reagieren. Natürlich bekommen wir Gruppenmitglieder längst nicht alle Gemeinheiten mit, die über die Administratoren hereinbrechen. Doch wenn jemand sie öffentlich in der Gruppe angreift, machen sich auch die anderen Teilnehmer ihre Gedanken, ergreifen warmherzig Partei, versuchen dem Unzufriedenen das eine oder andere zu erklären und machen kreative Vorschläge. Beleidigungen, Beschimpfungen oder gar Angriffe unter der Gürtellinie finde ich in dieser Gruppe gar nicht, während Kommentare deutschsprachiger Facebookgruppen ja mittlerweile vor Aggressivität nur so strotzen. Allerdings müssen wohl doch welche geschehen sein, vielleicht im persönlichen Chat. Jedenfalls schrieb die Administratorin Nina Boyko vor wenigen Tagen in einem neuen Eintrag, aus Gründen, die sie sich nicht erklären könne, sehe sie in bestimmten Diskussionen das Bedürfnis einiger Teilnehmer, irgendwo ihre negativen Emotionen loszuwerden. Sie wolle jedoch weder sich noch den Teilnehmern die Nerven aufreiben lassen und werde deshalb bei Nichteinhaltung der Gruppenregeln, die doch Aggression und Beleidigung ausschließen, die betreffenden Teilnehmer blockieren. Erfahrung und Zeit haben, so schreibt sie, bewiesen, dass es nichts nütze, Liebhaber überkochender Diskussionen von einem weniger emotionalen Umgang miteinander zu überzeugen. Sie werde deshalb in Zukunft schneller eingreifen.

 

Aufrichtig dankt sie allen, die die Gruppe seit Jahren treu unterstützen. Sie fordert alle Beteiligten dazu auf, die sich anstauende Aggression für den Feind aufzuheben. „Lasst uns uns weiterhin ehrenamtlich engagieren, lasst uns spenden, helfen! Es liegt doch noch so viel Arbeit vor uns! Lasst uns uns auf diese Weise dem Sieg weiter annähern!“

 

 

 

Ich habe sie wieder einmal sehr bewundert für ihre moderaten und doch entschlossenen Worte.

 

 

 

 

Und dann folgte einen Tag später eine echte Überraschung:

 

Nina Boyko eröffnete auf dem Hintergrund aller in letzter Zeit geschehenen Beschwerden eine neue Rubrik, die sie gleich als neuen Literaturwettbewerb formulierte:

 

So schlägt sie vor, mutige Teilnehmer, die auf Einzelheiten in ihren Gedichten hingewiesen werden wollen, welche sie noch verbessern könnten, dürfen ein Gedicht unter dem Hashtag #Kritisiere_ohne_zu_zersetzen (so würde ich ihren ukrainischen Hashtag jedenfalls in Deutsche übertragen) in der Gruppe veröffentlichen. Die anderen können dann mit konstruktiven Vorschlägen helfen, Inhalt, Sprache, Reimschema usw. zu vervollkommnen. Unter den Teilnehmern befinden sich, so merkt sie an, in der Tat Lektorinnen, Philologen und weitere Spezialisten, die den Autoren mit ihrer fachlichen Kompetenz bei der Weiterentwicklung ihrer Werke zur Seite stehen können. Und alle könnten daran viel lernen.

 

Die Administratoren bitten sehr darum, dass solche Beiträge dann auch kommentiert werden. Sie werden eine Statistik darüber führen und zum Ende des Monats einen Preis für die beste Kritik verleihen!

 

 

 

Nachdem kurz darauf die Administratorin Oksana Moch mit gutem Beispiel vorangeht - sie ist Lektorin und Redakteurin und die für ihre Unnachgiebigkeit in Sachen Ausdruck und Stil bekannt  - und unter dem Hashtag ein Meisterwerk in wenigen Zeilen veröffentlicht, sprudeln bald neue Beiträge. Und die Teilnehmer säumen nicht, sowohl viel Lob zu zu äußern, als auch zahlreiche Vorschläge zur Vervollkommnung von Feinheiten anzubringen.

 

 

 

Welch wunderbare Art, Menschen der Zivilgesellschaft für einen friedlichen und aufbauenden Umgang miteinander im zielgerichteten, punktgenauen Gebrauch ihrer Muttersprache zu trainieren!

 

Wie sehr ich mir solche Literaturwettbewerbe wie die der Gesamtukrainischen Poetischen Familie in unserer deutschen Literaturlandschaft wünschen würde!