Der Brief meiner mütterlichen Freundin aus Kyjiw klingt besorgt. Doch die Tasche, die sie mir durch meinen Mann überbringen lässt, übermittelt eine andere Botschaft. Darauf steht nämlich der Bibelvers "Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und einen gesunden Verstand!" (2.Timotheus 1,7). Pfarrer Ralf Haska war neulich dort, um einen Gottesdienst in der lutherischen Kirchengemeinde St. Katharina in Kyjiw zu halten. Die Kirchengemeinde, mitten im Zentrum der Stadt gelegen, wächst zurzeit sogar.
Nachts hat er schließlich sein Handy ausgeschaltet, da der immer wiederkehrende Luftalarm ihn nicht schlafen ließ. Sein Eindruck: "Es ist der blanke Terror, was die Russen da veranstalten. Sie wollen die Ukrainer zermürben."
Wohin führt der Weg der Ukraine?
Vor ein paar Tagen öffne ich Facebook. In der ukrainischen Lyrikgruppe, der ich verbunden bin, ploppt mir ein Video auf. Ein Soldat im Schützengraben, übernächtigt, mit einer warmen Mütze auf dem Kopf, rezitiert ein Gedicht:
Der Herbst ist wie ein Durchschuss gekommen.
Lebensbeschwerlich - erträglich.
Die warmen Socken im Bündel
Und warme Erinnerung wärmen mich sanft.
Die Bäume, blank liegende Nerven.
Die Träume rascheln im Blätterfall.
Es schrecken verborgene Inhalte
Und Stille fügt Silben zusammen.
Bis hin zum Gefrieren hab ich dich getrunken,
Bis zum völligen Brande der Lippen.
Neue Morgendämmerung leuchtet hell auf
In zerdrückten Kettenperlen des Weißdorns.
Wie im Durchschuss ging dieser Herbst vorüber,
Nur der Wind beginnt in der Wunde zu singen
Mit seinem durchlässigen Wintersopran
In dieser eisstarrenden Stimmlosigkeit …
Vlad Petrasch
26.10.2024
Осінь пройшла навиліт.
Життєво важливі - в нормі.
Теплі шкарпетки у торбі
І спогади теплі жеврІють.
Дерева - оголені нерви.
Сни шарудять падолистом.
Лякають приховані змісти
І тиша складає фонеми.
Я випив тебе аж до льоду.
До обпіків губ наостанок.
Виблискує новий світанок
В зім'ятих намистинках глоду.
Навиліт пройшла ця осінь.
Лиш вітер заспівує в рани.
Прозорим зимовим сопрано
В застиглому цим безголоссі...
Влад Петраш
26.10.2024
Ich möchte mehr über diesen Mann wissen und öffne seine Facebookseite. Er ist ein anerkannter Dichter aus Charkiw. Meine Güte, was für eine gepflegte Erscheinung! Dort, im Schützegraben, ist er kaum wiederzuerkennen.
In der Lyrikgruppe finde ich weitere Gedichte von ihm, eindrucksvoll von ihm vorgetragen. Ebenfalls aus dem Schützengraben. Mitten im gegenwärtigen Leben.
S´ ist nur ein Spiel,
der Nachtmär Träume Feuer,
und mein Syndrom traumatischer Belastung
wird durch den Herbst noch aufgewühlt.
Doch jetzt die warmen Tage
sind wie Belohnung.
Und genug von allem,
von allem - ach, es reicht …
Vlad Petrasch
23.10.2024
Це лише гра,
примарних снів вогні,
і мій ПТСР іще збентежить осінь.
А зараз теплі дні
як наградні.
І вдосталь всього,
і усього - досить…
Влад Петраш
23.10.2024
Ich kehr zurück!
Ganz klar. Ich kehr wieder zurück.
Aus zauberhaften Worten werd von neuem ein Geschmeid´ ich winden,
Und um den Hals werd ich es legen, wie gewohnt
Und werde ruhiger, wenn's zum Schutz wird, zur Begabung.
Ich kehr zurück!
Spür es! Ich kehr wieder zurück!
In Tränen wisch ich die vergess´nen Reime aus dem Foto,
Bildern der Bitterkeit entgegen erscheine ich
Dir gegenüber. Wenn öfters Du liest : „Ich kehr zurück.“
Vlad Petrasch
22.10.2024
Я повернусь!
Авжеж. Я знову повернусь.
Із слів чарівних знов зів'ю намисто,
Навколо шиї звично обів'юсь
І заспокоюсь, якщо стане хисту.
Я повернусь!
Відчуй. Я знову повернусь!
Забутих рим в сльозах розмию фото,
І образами виявлюсь навпроти
Тебе. Коли перечитаєш: "повернусь"....
Влад Петраш
22.10.2024
Und heute lese ich bei meinen ukrainischen Freunden blankes Entsetzen über den Ausgang der Wahlen in den Vereinigten Staaten. Nur Entsetzen? Zermürbung?
Nein. Sicher, Enttäuschung ist aus ihren Zeilen zu lesen. Und das Gefühl, noch mehr als bisher allein auf sich gestellt zu sein. Ich lese ihre Entschlossenheit, für das einzustehen, was ihnen wichtig ist.
Bis zum Mittag finde ich in der Lyrikgruppe schon zahlreiche Gedichte zu dieser verschärften Situation. Eines davon werde ich am Freitag bei der gemeinsamen Lesung zum Literaturherbst in Ochsenfurt vortragen.
Um mich darauf einzustimmen, habe ich in den letzten Tagen wieder eine Sendung der Lyrikgruppe angesehen, in der in Direktübertragung im Internet die Dichterin Nataliya Sidlar-Dubova (Charkiw) ihre Dichterkollegin Mariya Mudra aus der Westukraine interviewte. Diese gab sehr freimütig Einblick in das, was sie zum Verfassen von poetischen Texten inspiriert. Und dass sie zurzeit gar keine Lust zum Schreiben verspürt.
Und den Frauenpodcast einer jungen Journalistin, mit der ich im lockeren Kontakt stehe, habe ich mir angeschaut. Das Podcast-Projekt "Zhinoczy Podcast" wird aus amerikanischen Mitteln finanziert und beschäftigt sich vor allem mit Themen zur Lebensbewältigung in der aktuellen Situation. Da ging es neulich darum, wie man lernt, mit dem Schmerz des Verlustes umzugehen. Oder ein andermal um das persönliche Verarbeiten schwieriger medizinischer Diagnosen. Ich finde diese Podiumsgespräche, zu denen immer interessante Experten eingeladen werden, sehr spannend. Und hilfreich.
Im aktuellen Podcast, den ich gestern verfolgte, wurde eine Psychotherapeutin zu folgender Frage interviewt: "Wie adaptieren wir uns am besten an einen langen Krieg?" Im Gespräch gab es sehr brauchbare Hinweise, wie etwa: Anzunehmen, dass der Organismus tatsächlich lange Zeit braucht, um sich an die neue Situation zu gewöhnen, sich zu vergegenwärtigen "Ich lebe, ich will leben und ich möchte, dass meine Seele lebendig bleibt", sich seiner persönlichen Ressourcen bewusst zu werden. Und für sich einen Leitsatz zu finden, etwa wie "Ich lasse mich nicht unterkriegen."
Ein wirklich tolles Programm.
Ich finde:
Außer Waffen braucht die Ukraine auch weiterhin derartige Unterstützung.
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