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Traumfänger

Träume. Sie können Beunruhigung wiedergeben, zur Klärung beitragen, Impulse setzen. Und manchmal ein wenig Trost spenden.

 

Ukrainer, so zumindest meine Beobachtungen in unseren Jahren in Kyjiw, haben oft einen weitaus weniger rationalen Zugang zu ihren Träumen, als ich es selbst aus meinem Umkreis gewohnt bin. So überraschte es mich nicht, als ich neulich in der FB-Gruppe Gesamtukrainische Poetische Familie einen neuen Literaturwettbewerb unter der Überschrift "Traumfänger" (Ловець снів) vorfand, initiiert von Iryna Kalina und von Maryna Sosulya. Maryna Sosulya lebt im seit einigen Wochen akut von den Russen heftig bedrohtem Lyman  (Oblast Charkiw). Mit großem Einsatz spendet sie den Menschen durch kulturelle Angebote Hoffnung.  Neulich erst, als ich sie besorgt anschrieb, ob sie noch in Lyman ausharrt, schickte sie mir am folgenden Tag ein Video von einem eben stattgefundenen, von ihr vorbereiteten, gut besuchten,  poetischen Nachmittag.

Als ich sicherheitshalber im Internet nachsah, ob es sich bei dem Ausdruck Ловець снів um den bei uns bekannten, mit einem leichten Netz bespannten Traumfänger handelt, stieß ich auf eine gleichnamige Unterhaltungsserie im ukrainischen Fernsehsender 1+1. In mittlerweile 80 Folgen betätigt sich darin der seinen Klienten nicht unbedingt sympathische Psychotherapeut Nazar Lyutyi als Vermittler zwischen  ihrem realen Leben und der spannungsgeladenen Welt ihrer Träume. Er weist sie - oft sogar herablassend und pampig - auf aus von ihm übersinnlich wahrgenommene, ihren Träumen entnommene Schlüsselmomente ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen hin.

 

Die Aufgabenstellung des Literaturwettbewerbs war diesmal zum einen, einen ausdrucksstarken, überraschenden oder schon oft geträumten Traum in Gedichtform wiederzugeben. Zum anderen sollten die Autoren sich nicht zu erkennen geben, um ihren Lesern das Vergnügen zu bereiten, zu rätseln, wer hinter diesem Traumgedicht steht. Jedem wurde ein zum Gedicht passendes Pseudonym zugeordnet.

 

Übrigens: Im Ukrainischen wird klar unterschieden zwischen dem im Schlaf geträumten Traum (сон) und dem Wunschtraum (мрія). In diesem Artikel geht es ausschließlich um Träume, die unter den Begriff сон fallen.

 

Das Gedicht von Viktoria Hawryk, die diesen Literaturwettbewerb gewonnen hat, berührt mich sehr mit seiner eindringlichen Atmosphäre. Auf mein Nachfragen hin bekennt sie mir freimütig, dass ihr das Beschriebene tatsächlich vor einiger Zeit träumte. Es ist also keine poetische Phantasie. Umso tröstlicher finde ich ihren Traum!

 

Ich habe sie gebeten, für meine Leser ein wenig von sich zu erzählen. Nach einigen Tagen hat sie sich dazu durchgerungen, uns folgende persönliche Erinnerungen zur Verfügung zu stellen:

 

"Geboren wurde ich in Isjum im Gebiet von Charkiw. Später zog meine Familie in das Dorf Iwaniwka, wo ich meine Kindheit und Jugendzeit verbrachte. Im Alter von 17 Jahren schrieb ich mich an der Kyjiwer Slawistischen Universität ein, um die polnische und englische Sprache zu studieren und zog nach Kiew. Nach meinem Examen arbeitete ich dreizehn Jahre lang als Übersetzerin für das Fernsehen, danach war ich Fremdsprachenlehrerin an einer Schule. Auch jetzt arbeite ich als Englischlehrerin. 
Mein erstes Gedicht habe ich im Alter von 11 Jahren geschrieben, aber mit dem Schreiben begann ich ernsthaft erst im Jahr 2019. Doch schon in meiner Kindheit faszinierten mich die Werke ukrainischer Dichter. Ich träumte davon, Gedichte zu schreiben. An der Universität habe ich dann Shakespeares Sonette übersetzt und einige Gedichte auf Polnisch und Englisch verfasst.

Als der Krieg ausbrach, lebte ich in Kyjiw. In meinem Leben geschehen ab und zu geheimnissvolle Momente. So hatte ich zum Kriegsbeginn einen Traum vom Krieg. Genau am 24. Februar. Um 5 Uhr morgens begannen die Explosionen, ich schlief noch und wusste nicht, dass der Krieg begonnen hatte. Aber ich hörte diese Explosionen in meinem Traum. In ihm beobachtete ich, wie Flugzeuge flogen, ich versteckte mich in einem Bunker und die Aufzüge im Haus funktionierten nicht. Ich träumte von meiner Tochter, obwohl ich erst tags zuvor, am 23. Februar  erfahren hatte, dass ich schwanger war. In meinem Traum hörte ich eine Stimme, die mir berichtete, dass Charkiw, meine liebe Heimatregion, sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde.  Aber Moskau habe nicht weniger gelitten (deshalb hoffe ich, dass wir den Krieg doch noch gewinnen werden). Dann träumte ich, dass ich mit meiner Tochter, die inzwischen fünf oder sechs Jahre alt war, spazieren ging und der Krieg vorbei war. Um 6.30 Uhr wachte ich auf, weil meine Familie versuchte, mich anzurufen. Ich konnte nicht verstehen, warum sie so früh anriefen. Also schaltete ich das Telefon aus und schlief weiter. Aber um 7.00 Uhr morgens rief meine Mutter an und sagte, der Krieg habe begonnen.

Ich hatte große Angst, weinte und rief all meine Verwandten an, vor allem die, die in Charkiw leben. Und tatsächlich, genau wie ich geträumt hatte, war Charkiw schon seit den frühesten Morgenstunden unter Beschuss. Meine Cousine hatte schnell ihre Sachen gepackt und war in das Dorf ihrer Eltern geflohen, aber nach kurzer Zeit war auch dies Gebiet bereits besetzt, und es gab Kampfhandlungen rings um ihr Dorf. Sie mussten acht Monate lang unter Besatzung leben.

Am 24. Februar vernahm ich eine Stimme aus einem Lautsprecher, der in einer nahe gelegenen Schule installiert war. Es war die Übertragung des lokalen Fernsehens, über die Geschehnisse des Kriegsbeginns. Mein Mann und ich packten einen „Notfallkoffer“ (Dokumente, Wasser, einige Lebensmittel) und gingen in den Schutzraum unseres Hauses. Überall um uns herum hörten wir Explosionen, denn in der Region Kyjiw (Butscha und Irpin) hatten die Kämpfe bereits begonnen. Auch in unserer Kyjiwer Nachbarschaft flogen Raketen. Nachts, als wir im Luftschutzkeller saßen, hörten wir eine unglaubliche Explosion, und es schien uns, dass sie direkt hinter unserer Wand geschah und unser Haus einzustürzen drohte.  Aber es hatte ein Hochhaus in unserer Nähe getroffen. Die Rakete hatte in die oberen Stockwerke des Gebäudes eingeschlagen, aber glücklicherweise gab es keine Verletzten. Als ich mir das Gebäude später ansah, war mir, als befinde ich mich in einemn Horrorfilm.

Wir verbrachten fast drei Tage im Luftschutzkeller, hungrig, erschöpft und ohne Schlaf. Dann beschlossen wir, ins Dorf zu meiner Mutter zu fliehen. Wir kamen kaum aus Kyjiw heraus, weil es ständig Alarme und Explosionen gab. Erst als es zwischendurch kurz ruhig blieb, gelang es uns, uns zum Bahnhof zu begeben und einen Zug zu nehmen.

 

Ein paar Tage lang war es dort ruhig. Aber wenig später begann der Feind von der anderen Seite anzugreifen, und zwar ganz in der Nähe unseres Standorts. Wir hörten immer wieder Explosionen und Raketen, die über uns hinwegflogen. Nach 14 Tagen beschlossen wir, nach Kyjiw zurückzukehren, weil dort die Luftabwehr besser funktionierte. Mein Mann bestand darauf, dass ich nach Polen ausreise. Ich hatte bereits Fahrkarten gekauft und sollte aufbrechen, aber an diesem Tag fiel eine Rakete auf die Strecke, die ich nehmen sollte, und ich hatte Angst und blieb. Gott sei Dank haben unsere Truppen um den 28. März herum den Feind aus dem Kyjiwer Gebiet vertrieben, und dann wurde es ruhiger.

Als meine Tochter auf die Welt kommen sollte, zogen wir von Kyjiw in die Region Sumy (anfangs war es hier viel sicherer als in Kyjiw). Aber letztes Jahr haben feindliche Drohnen viele Häuser beschädigt, und das geschah nicht weit von unserem Haus entfernt. Jetzt ist es anders: Es gibt starke Explosionen, manchmal kommen Raketen. Manchmal bergen wir uns in einem Bunker, aber manchmal bleiben wir auch zu Hause zwischen zwei Wänden."

 

 

Möge Gott sie, ihre Tochter und ihren Mann auch weiterhin bewahren! Möge Sein stärkster Schutz die Ukraine umhüllen!

 

Ein kleiner Hinweis noch zu ihrem Gedicht: Der ukrainische Ausdruck für "barfuß" dient auch als Metapher für "mit offenem Herzen". Vielleicht mögt Ihr daran denken, wenn Ihr in den Sommermonaten barfuß geht?

 

 

Foto: Marktleuthen, Treppe am Bahnhof. Nicht ganz die Stufen, die Viktoria Hawryk in ihrem Gedicht überwindet. Und wie viel Stille - ganz anders als in überfüllten Bahnhöfen in der Ukraine, wo Flüchtlinge versuchen, noch einen Platz im Zug zu bekommen.

 

 

Autor: Die Prophetin

 

 

Verzögert bedeckte der Himmel sich vor der wütenden Welt, 

Hinab in das Gotteshaus ging ich, barfuß, verstohlen schlich ich durch die Finsternis, 

Die Treppe war wie das Leben, - Leben ist, wie über Stufen zu steigen - 

Mal gehst du alleine, mal gehst du den Weg mit der Menge.

 

 

Das Gotteshaus finster, bedrückt, 

      - die Reue, die Beichte, hängend an Wänden als ewige Schatten, 

Lebendig ist hier das Gebet, Verfehlungen - sie verloren sich irgendwo in einem Winkel, 

Keine Heiligen gibt es hier, mehr oder weniger sind alle schuldig. 

Und in der Morgendämmerung fliegen zur Sonne hin schon freie Vögel.

 

 

Allen vergab der Herr, sah´ s voraus, als zur leidenden Erde entließ Er den Menschen, 

Wobei als Geschenk er verlieh ihm den hellen Verstand und Schönheit direkt von der Quelle, 

Ich lese doch in meines Lebens Mitte das heilige Buch immer wieder, 

Wo Inspiration ich finde und Glauben - als Geschenk wie zwei himmlische Flügel.

 

 

Zwischen der Mauern Dunkelheit beginnt ein Schein aus dem Buch die Augen zu blenden, 

Ich höre von weitem die Stimme, mag sein, dass es Gott selbst ist, der zu mir spricht: 

“Bald aus der Finsternis gehst du hervor, weißt du, mein Kind, dein Traum ist prophetisch, 

Doch bis dahin schreite voran, bewahr dir den Leib und die Seele!“

 

Viktoria Hawryk

12.06.2025

 

 

 

Foto: Deckenbemalung der Dorfkirche in Herzberg (Mark)

 

 

#ВПР_58_поезія

 

 

Автор: Віщунка

 

 

***

 

Проволокою небо закрилось від лютого світу, 

Я спускалась у храм, йшла босоніж в пітьмі крадькома, 

Східці наче життя, жити — ніби по сходах ходити — 

То ступаєш один, то дорогою йдеш з багатьма.

 

 

Храм похмуро-сумний, каяття — вічні тіні настінні, 

Тут молитва жива, десь в куточку згубились гріхи, 

Тут немає святих, в більшій мірі чи меншій всі винні. 

Та до сонця летять у світанок вже вільні птахи.

 

 

Всіх пробачив Господь, відпустивши на землю стражденну, 

Передавши у дар світлий розум й красу з джерела, 

Я ж посеред життя перечитую книгу священну, 

Де натхнення і віра — у дар два небесних крила.

 

 

Серед мороку стін, сяйво з книги засліплює очі, 

Чую голос здаля, може сам промовляє Господь: 

"Скоро вийдеш з пітьми, знаєш, сон твій, дитино, пророчій, 

Але поки що йди, бережи свою душу і плоть! "

 

 

Вікторія Гаврик 

12.6.2025

 

 

 

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