Unverhofft treffe ich eine Bekannte aus Kyjiw. Dort hatten wir damals nicht besonders viel miteinander zu tun. Sie und ihr Mann sind in der Ukraine sehr verdiente, angesehene Persönlichkeiten. Menschen, an die ich mich nicht ohne weiteres herantraute, da ich mich selbst für ihr Niveau als zu unbedeutend einordnete. Doch bereits damals begegneten die beiden mir mit großer Wertschätzung. Und nun also in Berlin. Und nicht auf Dienstreise, wie man bei dieser Veranstaltung hätte erwarten können. Das Alter hat sie empfindlicher gemacht. Und der Krieg natürlich. Sie seien als Flüchtlinge da, raunt sie mir verschämt zu. In der Heimat sei alles geblieben, was sie zum Leben brauchen. Ihr Arbeitsmaterial. Die Grundlagen für ihr Leben. "Aber nach der schweren Operation verträgt er keine Kälte mehr. Und jetzt funktioniert durch die Angriffe die Heizung nicht mehr. Wer weiß, wie lange ..." Das alles hat sie mir erst auf mein Nachbohren anvertraut. Erst, nachdem sie den zeitlich äußerst begrenzeten Moment unserer Begegnung ausgiebig genutzt hat, um sich nach unseren Ergehen zu erkundigen. Und ihr aufrichtiges Bedauern darüber geäußert hat, dass es bei uns im Moment nicht so rund läuft. Sie kann das gar nicht verstehen: "... wo Ihr Mann doch so viel für die Ukraine geleistet hat!"
Im Gespräch begreife ich wieder einmal, dass mein eigener, stiller Kampf mit dem Herbst lächerlicher Kleinkram ist gegenüber den existenziellen Sorgen der nun schon so lange vom Krieg in Mitleidenschaft Gezogenen.
Die Dichterin Alyona Radchenko aus Nizhin in der nördlichen Ukraine fängt in ihren Zeilen eindrücklich ihre persönliche Herbststimmung ein. Am heutigen Morgen las ich bei einem anderen ukrainischen Dichter, den ich beobachte, er habe soeben die schwerste Nacht seines Lebens durchgestanden. Eine Nacht, die den Sinn all dessen in Frage stellt, was ihm bisher wichtig war. Man kann sich ausmalen, worum er gerungen und was er verloren hat. Und ich ahne, dass viele Ukrainer sich in Alyona Radchenkos Zeilen gut wiederfinden können. Ich habe nachgefragt, wie sie das mit den platzenden Kastanien in der dritten Zeile meint. Sie sind eine Metapher für die über die friedliche Bevölkerung hereinbrechenden Schachedraketen.
Doch lest selbst, welch bezaubernden Ausdruck sie ihrer Wahrnehmung des schon vierten Herbstes des vollumfänglichen Krieges verleiht:

Rheinsberg, Kirchstraße
An feinem Spinnweb hält fest sich der Herbst …
Im Takt der Ereignisse, der unerträglichen, schaukelt er.
Die reifen Kastanien schält er beim Aufschlagen. … Genug jetzt davon!
Auch so schon sagten wir unsere Pläne und Träume ab!
Dieser Herbst - selbst in meinem Becher mit ganz normalem Kaffee,
Als sei alles in Ordnung, so, wie ´ s gestern gewesen und einst …
Irgendwo nebenan lässt sich ungewohnt klagend ein Vögelchen hören …
Und um den Becher krampften die Finger sich fester …
Im fallenden Blatte verbirgt sich der Herbst …
Vor der Scham, vor dem Schmerz oder vor dem Bedauern.
Weißt du, oh Herbst, denn bis heut´ etwa immer noch nicht
Wie sehr ich dich fürchte und dich zugleich liebe?!
Alyona Radchenko
08.10.2025

Atelier Aino Nebel & Tomasz Niedziólka, Rheinsberg
На тонкій павутині тримається осінь...
Гойдається в такт нестерпних подій.
Каштаними лупить стиглими... Досить!
Ми й так вже зреклися від планів і мрій!
В стаканчику кави звичайної осінь,
Немов все в порядку, як вчора, колись...
А пташка десь поруч незвично голосить...
І пальці в стаканчик міцніше вп'ялись…
У листі опавшім ховається осінь...
Від сорому, болю, чи то від жалЮ.
Невже ти не знаєш ще, осене, досі
Наскільки боюсь я тебе і люблю!
Альона Радченко
08.10.2025

Umso beeindruckender finde ich die Nachrichten der ukrainischen Lyrikgruppe Gesamtukrainische Poetische Familie, der ich auf Facebook folge. Da gab es vergangene Woche eine Einladung zu einem neuen Onlineformat. Teilnehmen konnte man, wenn man dem mitgesandten Link folgte. In dieser Livesendung auf Google Meet werden in nächster Zeit Autoren vorgestellt, die als Soldaten an der Front eingesetzt sind. Die Reihe wurde vergangenen Samstag mit Roman Droniuk (links oben im Screenshot) eröffnet, den Natalia Sidlar-Dubowa aus Charkiw (Bild darunter) interviewte. Der Dichter ließ uns vor allem an seiner Prosa teilhaben, die er voller lebendigem Humor vortrug. Natürlich hatte er auch ernste Gedichte im Programm. Leider hab ich längst nicht alles verstanden, konnte aber an den Reaktionen der anderen Zuschauer mitverfolgen, wie sehr er sein Publikum mit seinen Texten in seinen Bann zog. Während bei den bisherigen Onlinetreffen die Zuschauer sich nur mithilfe der Kommentarfunktion zu Wort melden konnten, war es in dieser Videokonferenz möglich und erwünscht, sich ins Gespräch einzuschalten. Das war offensichtlich nicht nur mir noch ungewohnt (zum ersten Mal auf dieser Plattform fand ich bis zum Schluss der neunzig Minuten währenden Veranstaltung nicht heraus, wie ich das hätte bewerkstelligen können). Auch die meisten Zuschauer verharrten schweigend, ihre Mimik aber sprach Bände. Sogar eine junge Mutter nahm teil. Zwischendurch war zu sehen, wie sie ihren Säugling fütterte. Bei einer anderen Teilnehmerin war der kleine Junge im Hintergrund zu erkennen, der die Veranstaltung offensichtlich aufmerksam verfolgte. Natalia Sidlar-Dubowa ermunterte das Publikum mehrfach dazu, seine Fragen loszuwerden. Gegen Ende dankten viele mit überschwänglichen Worten für das warmherzige Treffen, das ihnen geholfen hatte, auf andere Gedanken zu kommen.

Atelier Aino Nebel & Tomasz Niedziólka, Rheinsberg
Welch eine Freude: Heute teilte Nina Boyko der Gruppe mit, dass die Gesamtukrainische Poetische Familie inzwischen 40 000 lyrikbegeisterte Mitglieder zählt. Im Manuskript meines zweisprachigen Gedichtbandes, das sich noch beim Verlag Kulturmaschinen in Arbeit befindet, hatte ich ja eine Anzahl von 20 000 Mitgliedern dieser Gruppe erwähnt, bei der ich die meisten Gedichte finde, die ich Euch hier vorstelle. Es ist für mich toll, zu sehen, wie wichtig so vielen Ukrainern ein bewusstes Engagement für ihre durch Russland unterdrückte und abgewertete eigene Landessprache ist. Und wie sie einander darin bestärken und unterstützen. Das starke Wachstum der Gruppe spüre ich an der Flut von Gruppenbeiträgen, die es mir oft nicht gerade erleichtert, bestimmte Gedichte wiederzufinden. Gestern zum Beispiel entdeckte ich Beiträge zu einem neuen Lyrikwettbewerb, konnte aber nirgends in der Gruppe die Ausschreibung dazu ausfindig machen. Ich hinterließ einen Kommentar unter einem der Gedichte. Und siehe da, Iryna Kalina, die zuständige Moderatorin, meldete sich binnen weniger Stunden bei mir, mit dem Hinweis darauf, dass sie eine neue Regelung eingerichtet habe, die nun die Literaturwettbewerbe übersichtlicher und auffindbarer gestaltet. Immer wieder bin ich voller Staunen, wie zeitnah und effektiv Ukrainer in der Lage sind, auftretende Probleme zu lösen.
Die Buchhändlerin Stephanie Kammer aus Herzberg (Elster) wies auf FB kürzlich darauf hin, wie wichtig es zum Erhalt der Demokratie ist, Räume für Begegnungen und Austausch zu schaffen. Die Gesamtukrainische Poetische Familie praktiziert das in vielfältigen Variationen schon seit langer Zeit ehrenamtlich in Eigeninitiative und überwindet damit auch erschwerte Bedingungen. So gab es Ende September ein neues mehrtägiges Treffen in Präsenz, einen sogenannten Poetischen Brunch, diesmal in Rivne. Die Dichter aus den verschiedensten Regionen der Ukraine trugen ihre neuesten Werke nicht nur einander und einem ausgesuchten Publikum vor. Sie teilten sich auch in Kleingruppen auf, die den Schülern der örtlichen Schulen ihre Arbeit mit der Sprache vorstellten. In einem Museum führten sie gemeinsam ein spontanes Theaterstück auf, in dem historische Dichter, Schauspieler und weitere bekannte Persönlichkeiten zu Wort kamen. Jemand von ihnen hatte den Auftretenden kurzerhand das Manuskript dazu aufs Smartphone geschickt, jemand rahmte die Aufführung mit seiner Violine und alle stimmten inbrünstig in das bekannte Volkslied ein. Einen schönen Einblick in die gemeinsamen Stunden und Tage vermitteln folgende Zeilen von Nadiya Starenka:

Im Rückblick auf Rivne
Ich seh die Fotos durch. Ich blättere
Warme Erinnerung - bewahrt in meinem Herzen.
Als sonnige Berührung blickt sie zu mir herein -
Ich blinzle voll Vergnügen.
Und jedes Bild erzählt mir (von neuem
zähl ich schon die Tage bis zum nächsten Mal!)
von Reinheit unsrer Eindrücke und Einzigartigkeit,
Freu mich an dem Geschenk, ja, ich weiß es zu schätzen!
Das Lächeln und die Blicke … Unbemerkt
Beginn ich wie ein Kind auch selbst zu lächeln!
Vorausgesagt war´n Tage, unvergessliche -
Des Herbstes hitzig gelbes Segel!
Rivne! Aus voller Brust nahm ich dich auf im Atem!
Mit überzeugtem Schritt längs der Allee.
Aufrichtige, vertraute Menschen bei dem Treffen,
Und überall erwarten off´ne Türen uns.
Zweifellos eng Vertraute, und so weit doch
Hat uns das Schicksal in die Welt verstreut …
Doch fliegen wir herbei, gerad so wie die Störche -
Strahlen zu trinken von durchgedrungner Sonne!
Das Wort bildet ein Netz ab, zärtlich erklingt das Lied!
Und in der Kraft des Herzens fliegt es um die Welt.
Freimütig lässt´ s sich nieder auf den gelben Zweigen.
Ich danke Euch, Ihr Lieben, im allertiefsten Sinn!
Nadiya Starenka
3.10.2025
Fotos mit freundlicher Genehmigung von Maryna Kudimowa
На задку про Рівне
Перебираю фото. Гортаю
Спомин тепленький - сховавсь у душу.
Сонячним дотиком заглядає -
Від задоволення мружусь.
Кожна світлина мені розкаже
(знову дні до наступних рахую!)
Про щирість і неповторність вражень,
Подарунку тішуся - ціную!
Усмішки, погляди...Непомітно,
Як дитина сама усміхаюсь!
Дні незабутні наворожились -
Жовто-гарячий осені парус!
Рівне! Вдихнула на повні груди!
Кроком упевненим по алеї.
Щирі на зустріч і рідні люди,
Всюди стрічають відкриті двері.
Близькі напевно, і так далеко
Нас розкидала по світу доля...
Та прилітаєм, мов ті лелеки -
Спити проміння ввімкнувши сонце!
Слово мережить і ніжить пісня!
Силою серця летить по світу.
Щиро лягає на жовте віття -
Дякую, рідні, - глибоким змістом!
Надія Старенька
03.10.2025

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Viktoriia Ponomarova (Donnerstag, 16 Oktober 2025 03:02)
perfekt!!! Чудово !!!❤️